«Mit meiner Frage stürzte die Mauer ein»
Riccardo Ehrman interviewt von Marco Cesario 21 October 2009

Es ist der 9. November und Günter Schabowski, ein hoher Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei und Sprecher der Regierung der DDR, hält in Ostberlin eine internationale Pressekonferenz im überfüllten Pressezentrum ab. Etwas liegt in der Luft, doch niemand kann erahnen was kurz danach geschehen würde. Der Minister redet und beruhigt. Nach wochenlangen Demonstrationen und öffentlichen Protesten, herrscht höchste Nervosität. Um 18 Uhr 53, stellt Riccardo Ehrman, seit Jahren Korrespondent der Presseagentur Ansa in Berlin, eine auf den ersten Blick einfache Frage, die voller Konsequenzen sein sollte. Er fragt Schabowski, ob es sich um einen Fehler gehandelt habe den DDR-Bürgern per Gesetz zu erlauben für 30 Tage in den Westen reisen zu können. Die Frage wollte bewusst provokativ sein.

Ehrman weiß, dass es sich bei diesem Gesetz um reine Propaganda handelte um die Gemüter der DDR-Bürger zu beruhigen, die Freiheit einforderten. Schabowski verneint zunächst, sichtbar irritiert. Dann zieht er einen Zettel aus der Tasche und liest eine Ankündigung mit der sofortigen Wirkung einer Bombe: alle Bürger der DDR könnten sich ab sofort in den Westen begeben und dies ohne förmlichen Antrag bei den Polizeibehörden. Vielleicht schätzt Schabowsky das Gewicht seiner Worte falsch ein oder vielleicht vergisst er, dass die life gesendete Pressekonferenz von Millionen von Deutschen verfolgt wird. An den Checkpoints versammeln sich zuerst Hunderte, dann Tausende von Menschen, die in den Westen wollen. Die Polizei hat keine genauen Vorschriften und weiß nicht wie sie sich verhalten soll. Doch der Minister hat sich klar ausgedrückt, der Weg nach Westen ist frei ohne Genehmigung. Ehrmann eilt zum Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße, ruft seine Agentur an und diktiert eine Kurznachricht mit dem Titel: «Die Mauer ist gefallen». In Rom halten sie ihn für verrückt. In der am Checkpoint angesammelten Menge, erkennt jemand Ehrmann wieder. Es war genau er, der Journalist, der die berühmte Frage in der Fernsehdirektübertragung Minister Schabowski gestellt hatte. Ehrmann wird von einer freudig feiernden Menschenmenge umringt, auf die Schultern gehoben und umjubelt. Kurz darauf wird die Mauer physisch einstürzen und es beginnt eine neue Ära für die Welt.

Können Sie uns berichten welches Klima in jenen Tagen herrschte?

Es ist bekannt, dass damals eine große Nervosität herrschte. In fast allen Städten der DDR fanden täglich Demonstrationen statt. Diese waren nicht offen gegen das Regime gerichtet, da sie sonst verboten worden wären, sie forderten auf jeden Fall mehr Freiheit. Das Klima war dementsprechend äußerst angespannt.

Und über die Pressekonferenz des Ministers Schabowski?

Zu Beginn der berühmten Pressekonferenz, sagte der Specher des Politbüros Günter Schabowski klar und deutlich: «Wir wissen um diese Tendenz in der Bevölkerung, dieses Bedürfnis der Bevölkerung zu reisen oder die Ddr zu verlassen. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen». Danach redete er für eine weitere halbe Stunde, bevor er die erste Frage zuließ.

Es gab diesen berühmten Gesetzentwurf, der den Bürgern des Ostens erlaubt hätte ins Ausland zu reisen, obwohl noch nicht rechtskräfig…

Der Gesetzentwurf den Schabowski öffentlich machte, war in Wirklichkeit noch nicht bekannt. Man wusste lediglich um ein Gesetz, das Schabowski etwa zehn Tage zuvor angekündigt hatte, laut dem die DDR-Bürger reisen durften, nachdem sie zuvor einen Reisepass und ein Visum beantragt hätten. Alles Dinge, die innerhalb eines kommunistischen Regimes nicht umsetzbar waren, weil es ausgesprochen schwer war einen Pass zu bekommen und noch schwieriger war es, wenn nicht sogar unmöglich, ein Ausreisevisum zu erhalten. Es handelte sich also um eine reine Propagandafarce.

An einem bestimmten Punkt der Pressekonferenz stellten Sie Minister Schabowski eine präzise Frage. Wie lautete sie genau?

Ich fragte ihn genau dies: «Herr Schabowski, glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?». Er, äußerst irritiert, antwortete: «Nein, das glaube ich nicht». Man muss bedenken, dass in einem totalitären Regime den Sprecher des Politbüros, also dem höchsten Machtorgan des Landes, eines großen Fehlers zu bezichtigen, bereits ein unglaublicher Vorgang war. In der Tat erklärte mir später Schabowski, dass ich ihn sehr nervös gemacht hätte. Wie auch immer, nachdem er behauptet hatte keinen Fehler begangen zu haben, fügte er hinzu: «Allerdings ist heute eine Entscheidung getroffen worden». Er zog einen Zettel aus der Tasche und las die Ankündigung, laut der die DDR-Bürger die Grenzen überqueren könnten, indem sie lediglich den Personalausweis vorzeigten und ohne vorherigen formalen Antrag bei den Polizeibehörden. Meiner Meinung nach bedeutete dies eindeutig, dass die Mauer gefallen war.

Nach dieser unglaublichen Ankündigung, stellten Sie ihm weitere zwei Fragen. Welche?

«Gilt das auch für West-Berlin?». Und er sagte sofort: «Über alle Grenzübergangsstellen». Dann fragte ich: «Ab wann?». Und er antwortete: «Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort, unverzüglich».

Was geschah in den Stunden nach dieser Life-Ankündigung im Fernsehen?

Die Grenzpolizei hatte keine Anweisungen erhalten, so dass die Situation unverändert blieb und die Grenzen geschlossen. Nach der Pressekonferenz lief ich zum nächstgelegenen Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße, wo bereits Hunderte, vielleicht Tausende Menschen Schlange standen und darauf warteten in den Westen zu gelangen. Während die Polizisten sagten: «Bleibt ruhig, wenn ihr wollt, stellt euch an, aber bisher verfügen wir über keine Anordnung». Dann geschah, dass einer der Wartenden mich aus der Pressekonferenz wieder erkannte und sagte: «Das ist er, das ist er!». Andere kamen hinzu, sie feierten mich, sie hoben mich auf ihre Schultern und umarmten mich voller Begeisterung. Es war eine außerordentliche Erfahrunf für mich.

Die Ostdeutschen hatten bereits die Tragweite der Ankündigung von Schabowski verstanden, während die Presse und die Obrigkeit langsam reagierten…

Es war überraschend, dass die Menschen mehr Vertauen in die Worte Schobowskis hatten als die anwesenden Journalisten. Die Bürger der DDR hatten sofort die Tragweite dieser Worte verstanden, während die anwesenden Kollegen nicht reagierten. Unglaublicherweise ging nur ich zum Telefon und diktierte ANSA die Eilnachricht: Die Mauer ist gefallen. ANSA meldete die Nachricht mit einem unglaublichen Vorsprung von 31 Minuten auf die Konkurrenz. Doch ich muss auch hinzufügen, wie mir später von Kollegen berichtet wurde, gab es einige, die sagten: «Riccardo ist verrückt geworden». Doch zu meinem Glück und dem von Deutschland und vielleicht der ganzen Welt, war ich nicht verrückt geworden.

Wie reagierten die deutschen Kollegen?

Ich glaube, die deutschen Kollegen glaubten den Worten Schabowskis nicht, weil es in der Vergangenheit ähnliche Ankündigungen gab, die sich dann als Farce herausstellten. Deshalb nahmen sie sie nicht ernst, während es für mich von Anfang klar war. Ich hatte keine Zweifel, denn wenn ich welche gehabt hätte, hätte ich nie eine derartige Nachricht am Telefon diktiert.

Stimmt es, wie einige berichten und wie Sie es selbst in einem Interview mit dem Corriere della Sera im April 2009 andeuten, dass Ihnen in Wirklichkeit diese berühmte Frage «vorgesagt» worden war?

Die Geschichte lief folgendermaßen. Ein deutscher Kollege einer wichtigen Zeitung, «Die Welt», hatte geschrieben, dass es sich bei meinem Handeln um reinen Zufall gehandelt hätte. Zufall meine Frage, aber auch Zufall mein Bericht nach Rom. Dies hatte mich irritiert, weshalb ich veröffentlichte, dass es kein reiner Zufall war, sondern ich die ganze Sache vorbereitet hatte. Ich war seit elf Jahren in Ostberlin und hatte eine Reihe «hochgestellter» Quellen, die mich über die Hintergründe der Vorgänge informierten. Zwei kann ich nennen: Klaus Gysi, ehemaliger Kulturminister und ehemaliger Botschafter der DDR in Rom, zuletzt auch Staatssekretär für Kirchenangelegenheiten. Er war eine äußerst einflussreiche Person, ein guter Freund, ein Mensch von großer Kultur, der italienische Küche und dem Grappa zugetan. Er war oft bei mir und wir verbrachten gemeinsam angenehme Abende. Er war eine gute Quelle. Die andere Quelle war ein Journalist mit Namen Günter Pöetzsche, Direktor der ostdeutschen Presseagentur ADN. Vor der Pressekonferenz hatte er mich angerufen und gesagt: «Stell eine Frage zur Reisefreiheit». Was ich dann auch tat, allerdings abgewandelt, denn ich stellte die Frage, ob es nicht ein Fehler sei ein Gesetz zu verabschieden, das es den DDR-Bürgern erlaubte ins Ausland zu reisen und nicht zur Reisefreiheit. Es war, wie man im journalistischen Jargon sagt, ein «Tip», ein Wink. Später habe ich verstanden, dass Pöetzsche selbst nicht genau wusste und nicht wissen konnte, was geschehen würde sowie die ganze Tragweite der Ankündigung. Wie er mir später berichtete, ist er selbst an jenem Abend, nachdem er über Erleichterungen bei den Gesetzen zu Auslandreisen berichtet hatte, nach Hause und ins Bett gegangen. Er schlief die Nacht durch, ohne dass die Kollegen seiner Redaktion ihn geweckt hätten, weil auch sie noch nicht begriffen hatten, dass die Mauer gefallen war. Eine andere deutsche Zeitung hat später behauptet, ich sei durch meine Fragestellung ein Instrument des kommunistischen Regimes gewesen. Dies ist ein paradoxer Unsinn, den man leicht zurückweisen kann, denn es ist nicht glaubwürdig, dass ein Regime eine eingeflüsterte Frage benötigt, um eine derart wichtige Ankündigung wie die des Mauerfalls zu machen.

Die Beschreibung der Hintergründe dieser berühmten Frage erfolgte erst viele Jahre nach dem Ereignis. Bestand der Grund ausschließlich im Schutz der Quellen oder, wie man in den Jahren nach dem Mauerfall vermutete, aus Angst vor Vergeltung?

Nicht vor Vergeltung. Unsere Ethik als Journalisten beruht auf einer einfachen, doch eisernen Regel. Die Quelle darf nicht enthüllt werden, außer diese selbst gibt die Einwilligung zu ihrer Identifizierung. Ich habe so lange nicht darüber gesprochen, bis ich erfahren habe, dass der arme Herr Pöetzsche bereits seit einigen Jahren verstorben war.

Die von Ihnen geschriebene Seite ist wahrscheinlich eine der schönsten Seiten des italienischen Journalismus, auch wenn man Sie vielleicht in Deutschland mehr als in Italien kennt…

Das weiß ich nicht. Doch es gibt noch einen Punkt, den ich hervorheben möchte. Sollte man mich in Erinnerung behalten, möchte ich nicht als der Journalist der die Frage stellte erinnert werden, weil in diesem wie in allen Umständen des Lebens, sind es nicht die Fragen die zählen, sondern die Antworten. In diesem Fall war die Antwort phänomenal und hat die Welt verändert. Wofür ich gern Anerkennung erhalte, ist die Tatsache, dass ich die Antwort sofort begriffen hatte. Dies ist vielleicht der einzige Verdienst, den ich glaube bei der Sache gehabt zu haben.

www.marcocesario.it

Übersetzung von Ruth Reimertshofer