Die Aufgabe der Demokratien
Giuliano Amato 1 December 2010

Der ehemalige italienische Ministerpräsident Giuliano Amato ist ein Mitglied des Board of Governors von Reset-Dialogues on Civilizations

Nach dem Schweizer Minarett-Referendum schrieb jemand, dass es möglich ist, eine „Demokratie mit demokratischen Mitteln zu töten.“ Der Ausdruck ist heftig und persönlich glaube ich, die Schweizer Demokratie wurde tatsächlich durch diese Volksabstimmung verletzt, obwohl sie zu kräftig ist, um von dieser getötet zu werden. Allerdings frage ich mich, inwiefern es als demokratisch bezeichnet werden kann, durch ein so schlechthin mehrheitliches Mittel wie ein Referendum über die Rechte einer Minderheit zu entscheiden. Diese Frage will ich vor allem heute stellen, wo sowohl die Politik als auch die Öffentlichkeit so sehr an dem mangeln, was im Englischen als “deliberative democracy” bezeichnet wird, und wo immer öfter die vernünftigen Debatten durch einen emotionalen Meinungsaustausch ersetzt werden.

Ein Argument, das häufig in der Angelegenheit dieser Volksbestimmung verwendet wurde und das sicherlich keinem demokratischen Grundsatz entspricht ist: „die Glaubensrechte der Muslime können nur dann vollständig in unseren Ländern anerkannt werden, wenn mehrheitlich muslimische Länder die Glaubensrechte der Christen auch anerkennen werden.“ Zwar stimmt es, dass diese Anerkennung in autoritären Staaten nicht vorhanden ist. Aber abgesehen von der Tatsache, dass einige muslimische Länder diese Rechte doch anerkennen, würden Demokratien sich selbst eklatant verleugnen wenn sie die Einhaltung ihrer eigenen Grundsätze auf ein Gegenseitigkeitsprinzip mit jedem Regime auf diesem Planeten anwiesen.

Vor sich selbst und vor der Welt, müssen Demokratien eine Aufgabe erfüllen: sie müssen Gesellschaften errichten, denen die gegenseitige Anerkennung ihrer ethnischen und religiösen Bestandteile zugrunde liegt. So steht es nämlich in ihren Verfassungen und in den internationalen Abkommen, die sie feierlich vereinigen. In diesen Abkommen sind Grundrechte aber nicht den Bürgern gewährt und noch weniger denjenigen Bürgern die sich zur einen oder zur anderen Religion bekennen, sondern der „Person“. So ist es nicht nur in der Europäischen Union, sondern so lautet auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die alle unsere Staaten unterschrieben haben.

Es ist nicht einfach offene Gesellschaften aufzubauen und es ist sicherlich nicht nur eine Frage des Rechts. Es ist auch eine Frage der Kultur. Um diesem Auftrag nachzukommen müssen nicht nur die Mehrheiten ihre eigenen Verantwortungen übernehmen, sondern auch die Minderheiten und diejenigen, die zuletzt angekommen sind: es ist ein „two ways process“, wie es in vielen europäischen Dokumenten heißt. Der muslimischen Minderheit die Erlaubnis zu verweigern, mit ihren Tempeln zum Leben und zur Physiognomie unserer Städte beizutragen, bedeutet deshalb nicht nur diese Minderheit abzulehnen, sondern auch in dieser Minderheit Gefühle zu erregen, die sich der gegenseitigen Verständnis einer wirklich offenen Gesellschaft widersetzen.

Jemand könnte sagen, dass Minarette nicht nur ein Profil haben, sondern auch Stellen sind, an denen die verstärkte Stimme des Muezzins zum Gebet ruft, während wir Ruhe haben wollen. Darauf würde ich natürlich selber antworten, dass die nicht-muslimische Mehrheit jeden Grund hätte, das eigene Recht auf Ruhe zu verteidigen und eine angemessene Vereinbarung aufzulegen. Das haben einige deutsche Leader getan, und damit haben sie einem wünschenswerten und friedlichen Zusammenleben beigetragen.

Für Nichtgläubige, sollte religiöses Glauben nie ein Grund zur Diskriminierung sein. Andererseits wäre es für die Gläubigen, die in Gott die höchste Quelle des Friedens sehen und ihm die Wahl zuschreiben, Unterschiede geschaffen zu haben, ein ernster Widerspruch, Vielfalt als Grund für soziale Ausgrenzung zu halten. In der Tat wäre ein derartiger Widerspruch die schlimmste Art, Gott zu verleugnen. Darf vielleicht die Behauptung, der Islam sei eine „aggressive Religion“, die Beschränkung dieses Glaubens als „Selbstverteidigung“ rechtfertigen? Nein, es ist keine Rechtfertigung, sondern eine Täuschung die auf eine schwerwiegende Verfälschung des Islams beruht, da dieser nicht mit seinem fanatischen und fundamentalistischen Flügel identifiziert werden kann.

Dieser Text wurde vom Autor auf der Konferenz “Nach dem Minarettverbot: die offene Gesellschaft und der Islam” vorgelesen. Veranstalter des Symposiums, das am 17. November 2010 an der Züricher Universität stattfand, waren der Universitäre Forschungsschwerpunkt Asien und Europa und die Stiftung Reset – Dialogues on Civilizations.