Der Islam in der Offenen Gesellschaft
Reinhard Schulze 13 December 2010

Reinhard Schulze ist Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern . Er leitet die wissenschaftlichen Zeitschriften Asiatische Studien und Orientalische Studien.

Jürgen Habermas war einer der ersten, der im deutschsprachigen Kontext von einer „postsäkularen Gesellschaft“ sprach: In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreis durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels am 14.10.2001 sagte er: „Den Risiken einer andernorts entgleisenden Säkularisierung werden wir nur mit Augenmaß begegnen, wenn wir uns darüber klar werden, was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesellschaften bedeutet.“ Diese „entgleisenden Säkularisierung“ scheint das ehrwürdige Prinzip einer „offenen Gesellschaft“, das Karl, Popper 1945 so eloquent portraitiert hatte, in Frage zu stellen. Kritiker wie Ralph Dahrendorf hatten allerdings schon früh bemängelt, dass Popper die Notwendigkeit und Bedeutung von „Ligaturen“, also von sozialen Bindungen und Traditionen, für die soziale Integration einer Gesellschaft unterschätzt habe. Religion war für Dahrendorf ebenfalls eine Form sozialer Ligatur. Einschränkend fügte er hinzu: „Allerdings liefern Religionen nur dann Ligaturen für eine freie Gesellschaft, wenn sie nicht einen Absolutheitsanspruch enthalten, der Optionen einschränkt und am Ende zerstört.“ Angesichts der wachsenden Bedeutung der Religion als Teil öffentlicher Ordnung vermuten heute manche gar eine Fragmentierung der säkularen Ordnungsbegriffs „Gesellschaft“. Es sind gerade Verfechter einer radikalen Orthodoxie wie William Ward, Norbert Samuelson oder Tariq Ramadan, die eine „Implosion des Säkularismus“ argwöhnen und die nun der Religion theologisch die Rolle zuweisen, die Säkularität zu verteidigen. Denn die postsäkulare Vermutung betreffe nun auch die Religion, der ihrerseits eine Fragmentierung drohe.

Unter säkularen Bedingungen stellten Religion und Gesellschaft noch zwei normative Ordnungen dar, die sich gegenseitig anerkannt hatten. Nun scheint sich die normative Ordnung, die der Begriff Religion in Unterscheidung zu Säkularität und Gesellschaft definiert hat, ebenfalls zu differenzieren und in einen neuen Dual transformiert zu werden. Was die neuen Ordnungen sind, die sich aus der Religion heraus entwickeln, ist heute noch nicht genauer zu bestimmen. Allem Anschein nach entstehen aber zwei neue Ordnungspole: auf der einen Seiten ein spirituelles Feld, das heute mit Konzepten wie Glück, Life Style, Erfahrung und gelebter Innerlichkeit verbunden ist; auf der anderen Seite ein schwer fassbares Feld genealogisch und bisweilen mythisch bestimmter Zugehörigkeit. Beide Felder setzen in sich Religion voraus und überwinden diese zugleich. Charles Taylor nennt diesen Prozess “Fragmentierung des Religiösen”: So unterstreicht er: “I want to argue that we are moving toward a sort of “fragmentation” of the spiritual, in which its previous connection with whole societies, be this in the older medieval form of sacred monarchies or in the modem form of “civil religion”, is being strained to breaking point. We are entering a ‘post-Durkheimian’ age [a situation, in which faith is not connected, or only weakly connected, to a national political identity]. We end up living in what I want to call an ‘immanent frame.’” Diese Deutungen zeigen, dass die Religion nicht zurückkehrt, sondern dass ihre Ausdifferenzierung heute vehement Geltungsansprüche einklagt, die auch das alte Gegenstück der Religion, die Säkularität, radikal umdeuten werden.

Die bislang gewohnte säkulare Situation hatte wie Charles Taylor herausstellt und wie schon Dahrendorf vermerkt hatte den Menschen erstmals die Möglichkeit geschaffen, im Feld der Religion eine Wahl zu treffen. Religion verlor ihren Status als Zwangskörperschaft und wurde mehr und mehr von der individuellen und kollektiven Zustimmung durch Menschen abhängig. Diese säkulare Option galt, solange die Gesellschaft als sozialer Verband, der als abstrakte, gedachte Ordnung die sozialen Normen trägt, Bestand hat. Postsäkular wäre also dann die Situation, in der soziale Gruppen die Gesellschaft nicht mehr als dominante Verbandsordnung anerkennen und stattdessen ihr Normen- und Wertesystem aus partikularen Gemeinschaftsordnungen heraus entwickeln.

Dies führt fast zwangsläufig zu einem neuen Kulturkampf. Die Rollen sind aber heute anders verteilt als am Ende des 19. Jahrhunderts. Heute treten die grossen Religionsgemeinschaften meist als Verfechter der säkularen Ordnung auf, die es zu bewahren gelte. Denn nur die säkulare Ordnung hat die Einheitlichkeit der Religionsordnung gesichert. In der post-säkularen Situation droht nun nicht nur eine Defragmentierung der Gesellschaft, sondern auch der Religion. Eben deshalb agieren viele Vertreter der religiösen Ordnung als Anwälte säkularer Werte, indem sie diese Werte als das genuin von der Religion Gewollte aus der eigenen Religion herleiten.

Das Minarettverbot in der Schweiz ist nun nichts anderes als ein Beispiel für diesen neuen Kulturkampf. Hier ist es einer Gemeinschaftsordnung gelungen, die Religionsneutralität des Staats als juristische Ordnung der Gesellschaft auszuhebeln. Die säkulare Option, das heisst die Wahlfreiheit, wird damit symbolisch zu Grabe getragen. Hier zeigt sich ein weiterer Prozess: der offenen, säkularen Gesellschaft droht ein Laizismus, insofern der Staat die Funktion einer religionsrechtlichen Ordnungsinstitution übernimmt. In dieser doppelten Fragmentierung von Gesellschaft und Religion wird also dem Staat eine Rolle zugewiesen, die ihm nach der klassischen liberalen Gesellschaftsordnung bisher nicht zustand. Diese laizistische Transformation von Geltungsansprüchen ist nun nicht einfach eine Fortschreibung des religionspolitischen Modells, das vor über 100 Jahren in Frankreich Gesetz wurde. Vielmehr handelt es sich um einen Ordnungsentwurf, der auf Wahrheitsbehauptungen über Religion beruht. Das zeigt sich deutlich am Beispiel des Islam. Verfechter des Minarettverbots begründeten ihre Begehren damit, dass sie die Wahrheit des Islam kennen würden. In der säkularen Situation hingegen wird anerkannt, dass die religiösen Akteure selbst ihre Wahrheitsordnung definieren und dass die Gesellschaft als abstrakte gedachte Ordnung keine Wahrheitsbehauptungen über Religionen definiert. Die Fragmentierung der Gesellschaft bedeutet so auch die Aufgabe des Konsenses, dass die Gesellschaft keine Deutungshoheit über Religion beanspruchen dürfe.

Die Fragmentierung oder besser Differenzierung der Religionsordnung hat hier eine deutliche Parallele. Auf der einen Seite etabliert sich eine konsumgesteuerte Erlebnisfrömmigkeit, auf der anderen Seite ein soziologisch bislang schwer fassbare Kategorie von genealogisch gedeuteter Zugehörigkeit, die Religion in eine existentielle Seinsbegründung transformiert. Dies bedeutet die Aufgabe des Konsenses, dass die Religion keine Deutungshoheit über die Gesellschaft beanspruchen dürfe. Und wieder wird der Staat reklamiert, um eine Gesellschaftspolitik durchzusetzen, die darauf gründet, dass die Religion die Wahrheit der Gesellschaft bestimmen könne.

Dies rückt den Staat in den Mittelpunkt des neuen Kulturkampfs und zwingt ihn, seine Neutralität aufzugeben. Der Islam ist symbolischer Ort dieses Kulturkampfes geworden. Die Gründe hierfür könnten auf Gegenstand unserer weiteren Diskussion sein.

Dieser Text wurde vom Autor auf der Konferenz “Nach dem Minarettverbot: die offene Gesellschaft und der Islam” vorgelesen. Veranstalter des Symposiums, das am 17. November 2010 an der Züricher Universität stattfand, waren der Universitäre Forschungsschwerpunkt Asien und Europa und die Stiftung Reset – Dialogues on Civilizations.

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