Istanbul, das Manifest der europaeischen Muslime
Ein Artikel aus ''Die Zeit'' 22 November 2006

Hoch oben über Istanbul, im alten Palast der Sultane, mit Blick auf das Goldene Horn, hatte sich am vergangenen Wochenende die erstaunlichste Versammlung von muslimischen Würdenträgern und Führungsfiguren eingefunden, die Europa seit langem gesehen hat. Der Großmufti von Bosnien und Herzegowina, Mustafa Ceric aus Sarajevo, trug im vollen Habit vor der Silhouette der Süleymanye-Moschee das Manifest der europäischen Muslime vor – die Topkap-Erklärung. Einige der größten Autoritäten der sunnitischen Welt saßen im Publikum – der umstrittene Jussuf Al-Karadawi aus Katar, der Mufti Ägyptens, Ali Gomaa, und der greise Scheich Bin Bayyah aus Saudi-Arabien. Ihnen zur Seite standen die populären Intellektuellen der jungen Generation – der Fernsehprediger Amr Khaled aus Ägypten, Hamza Jusuf aus Amerika und der Schweizer Tariq Ramadan. Die Weltspitze des Islams war aus Ost und West gekommen, um die Grundsatzerklärung der europäischen Muslime zu beglaubigen. Sie enthält unmissverständliche Worte zum “Krebsgeschwür des Terrorismus”: “Wir verurteilen und verabscheuen die gewalttätigen Aktionen einer kleinen Minderheit von Muslimen, die Gewalt und Terror gegen ihre Nachbarn und Mitbürger entfesselt haben, indem sie die Lehre des Islams verdrehen.”

Diese Worte waren unter den Teilnehmern des vorangegangenen zweitägigen Kongresses heftig umstritten, besonders angesichts der dramatischen Ereignisse im Gaza-Streifen. So wurde ein Passus aufgenommen über “die Ungerechtigkeiten und Leiden, wie etwa in Palästina”, die “zur Hoffnungslosigkeit und zur Verzweiflung vieler Muslime auf der ganzen Welt beigetragen haben”. Wohlgemerkt: Die Lage der Palästinenser trägt zur Verzweiflung bei, sie ist nicht deren alleinige Ursache. Das ist ein Bruch mit der apologetischen Haltung, die den Terrorismus allein als eine Reaktion auf den Nahostkonflikt erklärt. Diese zurückhaltende Sprache kann man als Versuch der europäischen Muslime sehen, sich von der Dominanz des Nahost-Themas zu emanzipieren, ohne sich zu entsolidarisieren. Die europäischen Muslime haben auch wahrlich genügend eigene Probleme, wie in Istanbul deutlich wurde. Die brennenden Vorstädte von Paris, die Londoner und Madrider Attentate und die Gefängnisse voller junger Muslime überall in Europa waren das eigentliche Thema der Tagung. Vom Karikaturenstreit, der kaum erwähnt wurde, ist ein Gefühl des Unerwünschtseins geblieben. In Istanbul wurde nach Wegen gesucht, aus der Defensive zu kommen, nach Wegen aus der “Opfermentalität”, die viele Redner verurteilten.

Die junge Soziologin Hebba Rauf Izzat aus Kairo kritisierte die Tendenz zur “Einkapselung”. Statt das Anderssein zu kultivieren, solle man sich lieber fragen, was die Muslime zum Florieren der europäischen Gesellschaften beitragen könnten. Moscheen sollten keine Reservate sein, in denen Muslime ungestört eine möglichst reine Identität ausbilden könnten, sondern “offene, zivile Räume”. Tariq Ramadan ging noch weiter in der Selbstkritik: “Häusliche Gewalt, Zwangsheiraten und die Ungleichheit von Mann und Frau müssen wir in unserem eigenen Interesse kritisieren – nicht nur, weil es uns von außen nahe gelegt wird.” Drakonische Strafgesetze in islamischen Ländern – wie etwa Steinigung von Ehebrecherinnen – nannte er “unislamisch”. Er zeigte sogar Verständnis dafür, dass sich viele Europäer vor dem Islam fürchteten: “Nicht jede Kritik an uns ist mit Vorurteilen und Islamophobie zu erklären. Die Europäer haben gute Gründe, Angst zu haben, wenn sie vorgeführt bekommen, was Muslime anrichten.” Die friedliebenden Muslime müssten sich den Medien öffnen und sich als “kritisch loyale” Bürger ihrer Nationen verstehen. Ihre Kritik sollten sie nicht aufgrund islamischer, sondern auf der Basis britischer, deutscher, französischer Werte formulieren. Das Ziel müsse ein “neues Wir” sein.

Darum gelte es, die alten Streitigkeiten der Herkunftsländer hinter sich zu lassen und die “vielen guten Elemente der europäischen Kultur” anzuerkennen – wie Rede- und Religionsfreiheit, Rechtsstaat und Demokratie. Die Schlusserklärung trägt deutlich die Handschrift des in Oxford lehrenden Tariq Ramadan. “Die europäischen Muslime sind heute in Europa zu Hause. Sie haben Beiträge zu Europas Vergangenheit geleistet und sind Anteilseigner (stakeholders) seiner Zukunft.” Sie hätten “große Chancen, sich als Bürger in einer pluralistischen Umgebung zu entfalten und vom Zugang zu Bildung, Wohlstand und Entwicklung zu profitieren. Als Bürger sind Muslime durch das islamische Recht verpflichtet, den Gesetzen ihrer Länder zu gehorchen, besonders wenn sie Religionsfreiheit und soziale Gerechtigkeit genießen. Als loyale Bürger sind sie verpflichtet, ihre Länder gegen Aggressoren zu verteidigen.” Das ist ein Perspektivwechsel von der Umma auf die europäische Bürgergesellschaft als Bezugspunkt. Die Erklärung ist eine Reaktion auf die Londoner Attentate vom 7. Juli vergangenen Jahres. Die Konferenz sollte nicht zuletzt auch ein Signal kurz vor dem Jahrestag der Anschläge senden. Es war ein geschickter kulturdiplomatischer Akt des britischen Außenministeriums, das Geld für das Treffen bereitzustellen. Die britische Regierung war klug genug, die Einladungspolitik den Muslimen zu überlassen und Istanbul als symbolischen Ort zwischen den Welten zu wählen. Denn hier war es möglich, islamische Autoritäten einzubeziehen, die im Westen nicht akzeptabel wären – wie Scheich Al-Karadawi, der die “Märtyreroperationen” in Israel und im Irak gerechtfertigt hat. In Istanbul saß er nun geduldig im Publikum und nahm zur Kenntnis, dass europäische Redner Mal um Mal Selbstmordterrorismus als unerträglich und unislamisch brandmarkten.

Die britische Regierung hat erkannt, dass sie selbstbewusste Partner unter den Muslimen braucht, wenn sie die Entfremdung der islamischen Jugend stoppen will. Sie hat dafür in Kauf genommen, dass in Istanbul einige Gruppen vertreten waren, die in ihren Heimatländern sehr skeptisch gesehen werden – wie etwa die den Muslimbrüdern nahe stehende UOIF aus Frankreich und die in Deutschland als islamistisch verteufelte Milli Görüs. Die Topkap-Erklärung gibt dieser Haltung Recht. An einem loyalen, selbstbewussten und sichtbaren Islam müssten alle Europäer interessiert sein. Das nächste Treffen sollte in London, Paris oder Berlin stattfinden.

Der Artikel erschien in Die Zeit vom 6. Juli 2006