Reden gegen die Angst
Joerg Lau 22 November 2006

Es gibt dänische Butter am Frühstücksbuffet im Sheraton Hotel Kairo. Vor wenigen Wochen noch hätte man die vertrauten Portionspäckchen mit der Lurpak−Butter überhaupt nicht wahrgenommen. Doch nach all den brennenden Fahnen, ausgebrannten Botschaftsgebäuden und Dutzenden von Toten sucht man verzweifelt nach guten Omen für das große Projekt, das in Kairo beginnen soll: Gelehrte, Politiker und Journalisten sind in der ersten Märzwoche aus aller Welt in die ägyptische Hauptstadt gekommen, um “den Dialog zwischen Zivilisationen zu denken”. Veranstaltungen mit solchen Titeln hat es in den letzten Jahren schon zu Hunderten gegeben, mit immer den gleichen Teilnehmern, die höflich aneinander vorbeireden. Doch die letzten Wochen ¬– in denen die dänischen Karikaturen, die Holocaust-Leugnung des iranischen Präsidenten und neue FolterBilder aus Abu Ghraib die wechselseitige Wahrnehmung zwischen der islamischen Welt und dem Westen bestimmen – haben gezeigt, dass ein echter Dialog erst beginnen muss. Wie findet man den rechten Ton dafür – jenseits von pauschalen Anklagen und falscher Rücksichtnahme?

Die Ära des Nihilismus in Europa ist vorbei

Nichts Geringeres als diese Frage haben Giancarlo Bosetti und Nina zu Fürstenberg, die Initiatoren der Kairoer Konferenz, ihren Gästen vorgelegt. Die beiden betreiben in Rom eine kleine, aber einflussreiche Intellektuellenzeitschrift mit Namen Reset. Mit den Reset Dialogues on Civilizations wollen Bosetti und Fürstenberg nun ein internationales Netzwerk von Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern und Journalisten schaffen, das die offene Debatte an die Stelle des Kulturkampfes setzt. Irgendwie ist es den beiden umtriebigen Machern gelungen, die italienische Botschaft, das Goethe-Institut und den ägyptischen Supreme Council of Culture für ihre Idee zu begeistern. Und so sitzen nun tatsächlich iranische und amerikanische Philosophen, Historiker aus Yale und Kairo mit Politikern und Journalisten aus Europa und der arabischen Welt für drei lange Tage zusammen. In seiner Begrüßung sagt Giancarlo Bosetti, es könne keinen Dialog ohne “gleiche Würde zwischen den Partnern” geben: “Das heißt aber nicht, dass wir uns miteinander einverstanden erklären werden, nur um höflich zu erscheinen, oder dass wir wechselseitige Kritik vermeiden.” Wie schwierig es wird, diese Freimütigkeit zu beherzigen, zeigt sich zu Beginn.

Einer der wichtigsten ägyptischen Teilnehmer, Sayed Yassin vom regierungsnahen Think Tank Al Ahram Centre for Strategic Studies, verlässt unter Protest das erste Panel mit dem schönen Titel Was wir voneinander lernen können. Sein Debattenpartner Giuliano Amato, Exministerpräsident von Italien und Vizepräsident des Europäischen Verfassungskonvents, wurde zuerst vorgestellt. Yassin fühlt sich offenbar düpiert und schmeißt gruß− und kommentarlos hin. Amato aber lässt sich nicht irritieren und geht in die Offensive. “Der Westen ist kein Block!”, ruft er beschwörend ins Publikum. “Und die islamische Welt ist auch kein Block!”. Voller Leidenschaft wirbt der Exministerpräsident von Italien hier für ein Europa, das sich seiner Grundlagen neu vergewissern müsse, gerade weil es “unwiderruflich multikulturell geworden” sei: “Die Ära des Nihilismus in der europäischen Philosophie ist vorbei. Unsere Philosophen denken über den Respekt nach, den wir den anderen schulden, und darüber, wie wir das Gemeinwohl definieren können in einer Welt, in der mehrere legitime Visionen des Guten miteinander koexistieren müssen.” Amato spricht von der “Wiederkehr der Religion”, von der “postsäkularen Gesellschaft” und zugleich von der “Errungenschaft der Trennung von Kirche und Staat”.

Das Europa, für das Amato steht, lernt gerade, die Macht der Religionen auf neue Weise ernst zu nehmen. Gerade deswegen weist es sie in ihre Schranken. Amato hat mit keinem Wort von den Karikaturen gesprochen und doch klar Stellung bezogen. Warum muss man so weit reisen, um aus dem Munde eines führenden Politikers solch ein leidenschaftliches Plädoyer für das Modell Europa zu hören? Im Angesicht des Anderen, den scheiternden Dialog vor Augen, hat eine europäische Selbstverständigung begonnen. Otto Schily spricht sich für Respekt gegenüber religiösen Gefühlen und Praktiken der anderen aus und macht doch im gleichen Atemzug klar, dass Steinigung, Genitalverstümmelung, Zwangsheiraten und religiös motivierter Terror keine Toleranz beanspruchen können. Der ägyptische Moderator sagt listig, dass Innenminister in der arabischen Welt sehr selten als Verteidiger der Menschenrechte aufträten. Amatos Absage an das Blockdenken erweist sich als geheimes Motto der Veranstaltung. Bald ist klar, dass es zwischen den Teilnehmern aus den islamischen Ländern sehr viel mehr Differenzen gibt, als sie üblicherweise zugestehen wollen und können. In Kairo ein Forum für den weitgehend angstfreien Austausch dieser Differenzen hergestellt zu haben – das ist schon ein kleiner Triumph für die Leute von Reset.

Eine Trennung von Politik und Religion wäre gut für den Islam

Der ägyptische Philosoph Hassan Hanafi markiert das eine Extrem des Meinungsspektrums. Hanafi, der an der Sorbonne studiert hat und das philosophische Institut der Universität Kairo leitet, strebt die völlige Entkolonisierung des Denkens an. Er zeichnet ein Bild des geistig und moralisch entleerten westlichen Denkens, das im Kern immer schon rassistisch und imperialistisch auf die Unterwerfung des anderen – des Orients – gerichtet war. Dagegen setzt er die vitale, aufstrebende islamische Welt, die im Rückbezug auf eine andere Vernunft, einen anderen Glauben, eine andere Gesellschaftsordnung zu sich finden muss. Sollten die Muslimbrüder eines Tages in Ägypten ans Ruder kommen – was nach ihrem Erfolg bei den letzten Wahlen eine ziemlich reale Möglichkeit geworden ist –, in Hassan Hanafi hätten sie einen eloquenten Theoretiker der Machtergreifung. Früher war er Marxist. Nun sieht er das Heil im politischen Islam. Den Sieg der Hamas preist er als “neues Entkolonisierungs−Regime in Palästina”.

Den Gegenpol zu Hanafi bildet der junge iranische Philosoph Ramin Jahanbegloo. Er kommt aus einem Land, in dem man es unter fürchterlichen Kosten mit der politischen Herrschaft des Islams versucht hat. “Wir gehen in Iran genau den entgegengesetzten Weg: Selbst die Kleriker suchen bei uns nach Möglichkeiten, Politik und Religion wieder zu trennen. Die Theokratie war nicht nur schlecht für die Politik, sie hat die Religion korrumpiert.” Jahanbegloo sagt, er sei “schockiert” über die Proteste radikaler Muslime gegen die Karikaturen, die genau das Bild bestätigen, das die westliche Islamophobie von den Muslimen zeichne. Wer die Intoleranz westlicher Gesellschaften gegen Muslime beklage, müsse auch die “Dämonisierung des Westens durch islamische Fundamentalisten” kritisieren.

Er macht keinen Hehl daraus, dass er die eigene Regierung mit einschließt. Als Reaktion auf die antisemitische Hetze seines Präsidenten, sagt er dem erstaunten Publikum, habe er gerade einen Essay über seinen Besuch in Auschwitz veröffentlicht. Wie kann ein solcher freier Kopf im Iran überleben? Wir sind viele, sagt er. Wenn ihr Westler mehr auf uns schauen würdet, statt nur auf Ahmadineschad zu starren, hätten wir es leichter. Bassam Tibi bringt die Debatte auf die Formel, wir seien Zeugen eines “Kampfes der Ideen” in der islamischen Welt. In Kairo kann man sehen, wo die Frontlinien verlaufen. Die Hegemonie des Westens muss gebrochen werden, indem wir uns von ihm ab− und unserer islamischen Identität zuwenden, sagen die einen. Wir müssen uns selbst aus unserer Misere erlösen, indem wir uns öffnen und die verschüttete islamische Tradition der Gelehrsamkeit und Weltoffenheit wiederbeleben, sagen die anderen.

Doch die Freiräume für diesen Kampf sind außerhalb solcher Veranstaltungen eng gezogen. Und Botschafter der im Zuge des islamistischen Aufschwungs um sich greifenden Engherzigkeit sind auch hier unter die Dialogpartner geraten. Einem bärtigen jungen Mann passt die ganze Richtung der Veranstaltung nicht. Er hält eine wütende Rede wider die Idee des gleichberechtigten Dialogs. Der Islam brauche keinen Dialog, keine Demokratie, keine Säkularisierung. Im Islam sei alles schon gegeben, was die Menschen brauchten, und alle seien übrigens herzlich eingeladen, sich zu ihm zu bekennen. Den einheimischen Teilnehmern ist dieser Auftritt sehr peinlich. Sie rollen mit den Augen und wenden sich ab. Doch niemand widerspricht dem Bärtigen. Niemand will es sich mit ihm verderben. Mit  seinesgleichen wird in Ägypten in Zukunft zu rechnen sein.
Ein Grund mehr, sich bald wieder zu treffen.

Der Artikel erschien in Die Zeit vom 16. Marz 2006